Günter Grass hat ein Gedicht geschrieben,
das Aufsehen erregt hat,
mehr Aufsehen als je einem Gedicht zuteil wurde,
selbstverständlich nach Form und Inhalt ein modernes Gedicht,
ein hochpolitisches, provozierendes Gedicht!
Ein Gedicht? Ein Prosagedicht? Rhythmische Prosa?
Leitartikelprosa in Flattersatzzeilen (Versen)?
Der Inhalt soll uns hier nicht interessieren, nur Gattung und lyrische Form.
Der Autor, unser Nobelpreisträger 1999 für Literatur, hat zweifellos ein Gedicht geschrieben, möglicherweise ein Prosagedicht, zu dem er es – als Zweifel an der Gattung Lyrik auftauchten, ahnungsvoll herabstufte.
Oder handelt es sich bei dem Grass-Gedicht gar nicht um ein Prosagedicht, sondern um rhythmische Prosa? Also erst einmal im Internet googeln.
Wikipedias Auskunft ist ungewohnt knapp: „Ein Prosagedicht ist ein Gedicht in Prosa, also ohne für Lyrik konstitutive Formelemente wie Verse oder Reime. Seine Blüte erlebte es im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts. Auch im deutschen Sprachraum sind seit dem 20. Jahrhundert Prosagedichte in weit verbreiteten lyrischen Werken verstärkt nachweisbar.“
Das Beste, was ich im Internet über das Prosagedicht gefunden habe,
stammt von der sehr verehrten Professorin Dr. Erika Gräber, Lehrstuhl für Komparatistik, Universität Erlangen-Nürnberg, von der ich viele Anregungen erhalten habe und die leider im Juli 2011 verstorben ist:
„Das Prosagedicht ist in der deutschen Literaturwissenschaft seit jeher als recht heikles literarisches Phänomen angesehen worden: Zum einen verweigert es sich in seinem Oszillieren zwischen Prosa und Lyrik der klassischen Gattungstrias. Es ist ein Störelement und erzwingt eine Revision des Gattungssystems. Zum anderen bleibt das deutsche Prosagedicht merkwürdig blass im Vergleich zum schillernden gesamteuropäischen Kontext der Gattung, die geprägt ist von Größen wie Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé, Ivan Turgenev …“
Ich wollte noch mehr erfahren und habe meine Bibliothek durchstöbert:
Prosagedicht: „Prosatext mit poetisch-lyrischen Eigenschaften …“ („Metzler Lexikon Literatur“, 3.Auflage, Stuttgart 2007, Seite 614).
Rhythmische Prosa: “… in der rhythmische oder stilistische Elemente der Wiederholung gebraucht werden, die den Text von der Umgangssprache abheben, aber nicht schon der Versdichtung zuweisen." (Ebenda Seite 654).
Prosagedicht: „Behandlung eines epischen Stoffes oder einer Situation in kunstvoller rhythmischer, klangvoller und bildstarker Prosa (mit Alliterationen, Assonanzen, Binnenreimen, Wiederholungen, die sich von der Lyrik nur durch Fehlen von Endreim und Verstrennung unterscheidet und die Mitte zwischen rhythmischer Prosa und Freien Rhythmen hält." (Gero von Wilpert, „Sachwörterbuch der Literatur“, 8.Auflage, Stuttgart, 2001, Seite 642).
Rhythmische Prosa: „Sammelbezeichnung für rhetorisch-poetische Prosa von besonders starker rhythmischer Ausprägung, dadurch von alltäglichem Umgangssprachduktus wie von regelmäßiger metrischer Durchformung im Vers abgehoben.“ (Ebenda, Seite 690).
Prosagedicht: „Mitte der Sechzigerjahre in Deutschland aus Frankreich übernommener, in der Literaturwissenschaft nicht unumstrittener Begriff für lyrische Aussagen, die in stark rhythmisierte Prosa künstlerisch überformt werden." („Poetik in Stichworten“, Nachdruck 8.Aufl., Stuttgart 2007, Seite 79).
Rhythmische Prosa: „Übergangsformen zwischen ungebundner und gebundener Rede werden als rhythmische Prosa bezeichnet.“ (Ebenda, Seite 79).
Prosagedicht: „Poeme en prose, das: (frz. Prosagedicht) »poetische Prosa«, kunstvoll strukturierte und rhythmisch-klanglich gestaltete Prosa zwischen freien Rhythmen und rhythmischer Prosa.“ (Otto F. Best, „Handbuch literarischer Fachbegriffe“, 7.Auflage, Frankfurt/Main, 2004, Seite 408).
Otto Knörrich setzt sich in seinem „Lexikon lyrischer Formen“ auf den Seiten 171 bis 173 mit verschiedenen Definitionen auseinander und endet mit dem Eingeständnis, „dass nicht jede poetische (im emphatischen Sinn lyrische) Prosa ein Prosagedicht ist, dass es sich aber bei ihm sowohl um »Prosa wie um ein Gedicht« handelt (Fülleborn), wird man nicht bezweifeln können. Auch lässt die ziemlich breite Begriffsverwendung … eine präzisere Bestimmung kaum zu.“
Meine Antwort auf obige Frage: Günter Grass hat recht mit seiner Einordnung, denn er hat mit sehr empathisch-emphatischen und hinreichend rhythmischen Versen provoziert.
Renate Golpon
Schweinsfisch oder Fischschwein?
Ich nehme zuerst mir das Schwein vor –
hab Schwein grade gestern gehabt –
nein, Schwein nicht gegessen zum Mittag!
Denn sinnübertragend als Sprichwort,
auch als Glücksbringer häufig verwendet,
muss das Borstenvieh herhalten oft.
Beim Fisch ist es wieder ganz anders.
Oder doch nicht?
Zwar gibt es Vergleiche mit Fischen:
Aalglatt ist manch einer der Menschen
oder kalt wie ein Fisch.
Viele fühlen sich oftmals so wohl
wie die Fischlein im Wasser.
Ob nun Schwein oder Fisch:
Beide haben gemeinsam das Fleisch,
ob mit Knochen nun oder mit Gräten.
Und wie ist es beim Prosagedicht?
Find ich „Knochen“ darin oder „Gräten“?
Ganz egal – ich vermische schlicht beides …
und heraus kommt ein knochiger Fisch
oder doch nur ein grätiges Schwein ?!
Dieses recht rhythmische Beispielgedicht oszilliert zwischen Prosa und Lyrik (Greber). Allerdings tendiert es mehr zur Lyrik, weil die Alltagssprache durchsetzt ist von bruchstückhaftem Versschmuck (Assonanzen, Stabreim, poetischen Wortumstellungen). Beim Rhythmus ist mein Hang zum Anapäst unverkennbar. Lyriktypisch ist auch die Textstrukturierung: Verse, in Strophen unterteilt.
Prosagedicht: ja
freie Rhythmen: ja, aber nicht durchgängig
Versgedicht: ja
Versgedicht mit Versschmuck Reim und Metrum: nein
Rhythmisch-stilisierte Versdichtung: weitgehend
Die meisten Prosagedichte tendieren allerdings mehr zur Prosa, weil sie nur „verinselt“ rhythmisch sind. Dieses Genre als Gedich zu akzeptieren fällt mir jedoch schwer. Ich werde hart daran arbeiten müssen, um auch noch solch ein „prosaisches“ Gedicht vorstellen zu können.